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Samstag, 9. November 2019

Der Mauerfall und die Grenzgängerin

Diese Woche wurde in Berlin der Fall der Berliner Mauer in der ganzen Stadt gefeiert. Bevor ich von dem umfangreichen Programm wusste, hatte ich mir vor Monaten schon vorgenommen, am 9. November unterwegs zu sein. Eine kleine, feine Tour zu den Orten meines Lebens kurz vor und nach dem Mauerfall. Wer wissen will, wie ich diese Festwoche erlebt habe, kann das gern auf meinem Instagram- oder Facebook-Account nachlesen.

Hier und heute soll es vor allem um mein Erleben der Wendezeit gehen. Die Bilder hierzu habe ich in den letzten Tagen, aber vor allem am 9.11. gemacht.

Wer jetzt erwartet, hier geht es nur um diesen einen Tag, den muss ich enttäuschen. Denn ich muss zugeben, ich habe den Fall der Mauer verschlafen. Ich war 18 Jahre, hatte gerade meine Lehre beendet und begonnen, auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur im Abendgymnasium nachzuholen. Ich war einfach total k.o. und bereits um 21 Uhr im Bett. Die berühmte Pressekonferenz von Schabowsky habe ich nicht mitbekommen und bin am nächsten Morgen ganz normal zur Arbeit gefahren.

Relativ früh am Tag telefonierte ich mit meiner Schwester. Sie sagte, sie wäre so müde. Ich fragte, warum und die Antwort war: ich war gestern nacht drüben. Erst da habe ich überhaupt mitbekommen, was passiert war.

Dieses Gefühl, dass etwas so Unbegreifliches, nicht Erwartetes plötzlich wahr geworden war, kann man nicht beschreiben. Um es vielleicht ein wenig besser zu verstehen, möchte ich Euch ein paar Anekdoten erzählen, die ich erlebt habe. Dazu muss ich aber noch zwei Jahre in der Zeit zurück gehen.

Der Anfang


Mein politisches Bewusstsein entwickelte sich 1987, als ich meine Lehre begann. Ich traf auf Menschen, die mich mitnahmen in ihre Welt. Meine erste Ausbilderin engagierte sich in der Umweltbibliothek. Wir verstanden uns sehr gut und ein Mitlehrling ging auf Punk-Konzerte, zu der sie mich mitnahm. So lernte ich einer der Subkulturen in der DDR kennen, sie wurde meine neue Heimat. Über viele Jahre ging ich von Konzert zu Konzert und Politik, die Unzufriedenheit war immer ein Thema. In den Texten, in Gesprächen etc.

Ich in der Mitte, rechts neben mir meine Ausbilderin. 
(Ich hatte damals schon ein Faible für schwarz-weiß 
und den Pullover sogar selbst gestrickt.)

Ich war noch sehr jung - 16 und übergeordnete Leute sahen es nicht gern, dass ich von einer Oppositionellen ausgebildet wurde. Also wurde ich in eine andere Bibliothek versetzt. Eingaben meines Vaters dagegen halfen nicht.

Punk im Osten - Erlöserkirche 1988 (eigene Aufnahme)

Stasi überall

Das Haus, in dem meine Schwester mit ihrer Freundin wohnte
... und ich irgendwie auch, denn ich war oft dort.
Gegenüber hatte die Stasi Stellung bezogen
(Fehrbelliner Strasse, direkt an der Zionskirche)

Meine ältere Schwester hatte in Jena, einer Opposionshochburg bereits Jahre vorher, studiert und kam 1987 wieder nach Berlin. Sie wohnte mit einer Freundin am Zionskirchplatz und ich war damals oft dort. Der Freund dieser Freundin hatte einen Ausreiseantrag gestellt, den die Behörden aber nicht genehmigten. Die Wohnung meiner Schwester wurde von der Stasi überwacht aus einer Wohnung genau gegenüber. Irgendwann hat dieser Freund einen Fluchtversuch über Ungarn (noch vor der großen Fluchtwelle) gewagt und ist dabei geschnappt worden. Später wurde er in den Westen freigekauft.

Da die Zionskirche und die Umweltbibliothek, die sich in deren Räumen befand, als oppositionelle Orte galten, war die Stasi dort permanent vor Ort. Manchmal hinter Gardinen, manchmal auch sichtbar in den unverkennbaren blauen Ladas. Jeder wusste, dass solche Autos nur die Stasi fuhr.



Musik am Reichstag


Der Reichstag auf der Westseite, hier war die Bühne aufgebaut

von hier aus ungefähr hörten wir die Musik
Vermutlich hat der ein oder andere von den Konzerten 1987 vor dem Reichstag gehört. Dort wurde eine riesige Bühne aufgebaut und Stars wie die Eurythmics, David Bowie und Genesis traten auf. Der volle Sound war auch im Osten gut zu hören. Ich selbst war am zweiten Tag vor Ort, Pfingstsonntag. Es waren ein paar wenige Tausend, die sich vor dem Brandenburger Tor versammelten, nur um Musik zu hören. Alle kamen in schwarz, als wäre das verabredet. Einer hatten einen Kassettenrekorder dabei und spielte das Lied "Berlin, Berlin" von den Gropiuslerchen - ein provozierender Text. Die Stimmung war angespannt, alle hatten Angst, keiner wusste, was passieren würde. Auch der oben erwähnte Bekannte meiner Schwester war da. Zu der Zeit hatte er bereits sogenanntes "Berlin-Verbot", er durfte also eigentlich gar nicht in der Stadt sein.

(Mehr dazu könnt ihr in diesem Spiegel-Artikel nachlesen.)

Irgendwann fing es an zu eskalieren. Stasi-Leute griffen vereinzelt Leute aus der Menge und versuchten sie wegzuzerren, Panik entstand. Knüppel trafen die Menschen. Ich hatte Glück. Irgendwie kamen ich, meine Schwester und unsere Freunde da wieder raus. Die Polizei drängte uns zum Bahnhof Friedrichstrasse. Ich kann mich noch gut erinnern, wie Westler an den Fensterscheiben des Interhotels Unter den Linden standen und nicht glauben konnten, was sie da sahen.

Wohnungssuche


Mein wohl kuriosestes Erlebnis hatte ich während der Wohnungssuche. Eine Wohnung im Osten zu bekommen war fast genauso schwer wie heute, aber aus anderen Gründen. Oft wussten die Behörden gar nicht mehr, welche Wohnungen frei waren. Allein durch die vielen Flüchtlingen haben sie den Überblick verloren. Auch waren die meisten Altbauwohnungen in einem miserablen Zustand. Eine Form, an Wohnung zu kommen, war das sogenannte "frei melden". Meldete man den Behörden mehrere freie Wohnungen, hatte man gute Chancen, eine davon zu bekommen. Vor allem, wenn man sich auch bereit erklärte, diese in Stand zu setzen. So zog ich also durch die Viertel, in denen ich wohnen wollte und schaute nach leerstehenden Wohnungen. Dabei ging ich auch in Häuser, die unmittelbar an der Mauer standen.



Ausstellung Gethsemanekirche 
Hier hätte meine erste Wohnung sein können.
Offensichtlich wurde ich dabei beobachtet. Denn als ich aus einem der Häuser kam, stand plötzlich ein Polizist vor mir. Er verlangte den Ausweis, gab meine Personalien über Funk an eine Zentrale durch und fragte mich, was ich da mache. Ich erklärte ihm die Lage. Da nichts gegen mich vorlag, konnte ich wieder gehen. Zur Verabschiedung meinte der Polizist dann zu mir, er würde mich total verstehen und wenn er jetzt nicht im Dienst wäre, w
ürde er gern mit mir einen Kaffee trinken gehen. Sehr schräg das Ganze. Denn ich hatte schon ziemlich Schiss, was da passiert. Der hätte mich auch einkassieren können bei der Willkür des Staates. Ich hatte auch hier wieder Glück oder vielleicht war es auch die Zeit (1989), wo sich die Offiziellen nicht mehr ganz soviel trauten.

Verschlafen


Wie bereits eingangs erwähnt, habe ich den Moment des Mauerfalls verschlafen. Aber selbstverständlich bin ich am nächsten Tag nach der Arbeit sofort rüber. Wir sind über die Invalidenstrasse über die Grenze und mit der S-Bahn erstmal nach Kreuzberg. Dort wohnte inzwischen die Freundin meiner Schwester, deren Ausreise kurz vor Maueröffnung genehmigt wurde. Auch hier hatte ich eine kuriose Begebenheit: direkt bei meiner ersten Westfahrt sah ich im Zug den damaligen Westberliner Bürgermeister Walter Momper, unverkennbar an seinem roten Schal. 

Das war schon eine irre Stimmung in der Stadt, eine einzige Party. Aber nicht alle Westdeutschen fanden das, was da über sie hereinbrach, gut. Einige machten tagelang die Wohnung nicht auf, weil sie Angst hatten, jetzt kommen die ganzen Ostverwandten und bringen alles durcheinander. Und am Ende war es ja auch so. Westberlin vor 1989 war ein Biotop, das ziemlich schnell verloren ging. Wer es noch nicht kennt, gut nachzulesen in  "Herr Lehmann".

Die Währungsunion


Die linke Opposition im Osten wollte keine Wiedervereinigung und auch kein Westgeld. Denen ging es nicht um Konsum, sondern um eine bessere Alternative zum Kapitalismus. Aus diesem Grunde war der Tag der Währungsunion für viele ein Trauertag. Hatten sie doch das Gefühl, ihre Revolution wäre verraten worden. Und irgendwie ist das ja auch so. Verkauft trifft es wohl eher.

Auch ich saß in dieser Sommernacht mit meinem Freund auf der Strasse und wir betranken uns, während ab und zu einer an uns vorbei lief und vor Freude die D-Mark-Scheine schwenkte. Uns war das fremd. Wir waren traurig.

Schliemannstr. 14 A - Trauer in der Nacht, als die D-Mark kam

Ich bin überzeugt davon, dass die Probleme, die wir gerade in diesem Land haben mit rechtem Gedankengut im Osten genau auf diese Zeit und die Übernahme zurückzuführen ist. Denn nichts anderes ist damals passiert. Kein Anschluss, keine Wiedervereinigung, sondern eine Übernahme. Das aufzuarbeiten ist es an der Zeit!

Ich hoffe, ich konnte Euch ein wenig mitnehmen in das Leben zwischen den Welten damals. Für mich war es die wichtigste Zeit meines bisherigen Lebens, sie hat mich geprägt und zu dem Menschen gemacht, der ich bin. Unangepasst, grenzgängerisch und nach wie vor lebt ein kleiner Punk (oder auch größerer) Punk in meiner Seele.

Einen letzten Buchtipp habe ich noch für Euch. Denn so richtig spannend war es ja direkt nach dem Mauerfall. Es war ein anarchistisches Jahr - das Jahr 1990 und dies wird in kleinen Geschichten erzählt, die in dem Buch unten beschrieben werden. Zu zwei dieser Geschichten habe ich wieder Bezugspunkte, aber das würde nun doch zu weit führen. Wer mir bis hierher gefolgt ist, war schon tapfer genug.



Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren!
Anke

P.S. Und was hat das alles mit Nähen zu tun? Eigentlich gar nichts, aber angefangen zu nähen habe ich zu ähnlicher Zeit, ich glaube, sogar 1-2 Jahre eher und mein erstes Kleidungsstück war ein Tellerrock aus einem Bettlaken. Im Osten musste man sich irgendwie behelfen, wenn man was ungewöhnliches anziehen wollte.

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6 Kommentare:

  1. Danke für diese, deine, Geschichte

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  2. Sehr sehr interessant, danke für diese persönliche Geschichte. Manches aus dieser Zeit wurde mir erst bekannt durch den Dreiteiler im ZDF letzte Woche, wie mutig ihr damals wart und was für ein gemütliches Leben wir im Westen im Gegensatz dazu vor und in 1989 und in den Jahren nach der Wende mit vielen guten und vor allem gutbezahlten Jobs in den neuen Bundesländern hatten. LG Anja

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    1. Ich freue mich sehr darüber, dass meinen Bericht offensichtlich auch einige aus den alten Bundesländern lesen. Denn persönliche Stimmen sind immer nochmal was anderes, als Berichte aus dem Fernsehen. Das gilt selbstverständlich für jeden historischen Bezug. Auf den Open-Air-Austellungen der Festwoche fand ich auch die Zeitzeugenstimmen am spannendsten, es gab soviel unterschiedliche Hintergründe und Sichtweisen. LG Anke

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  3. Vielen Dank für diese sehr persönliche Zeitreise. Wir sind anscheinend der gleiche Jahrgang und mein Leben (in NRW) verlief zu der Zeit komplett anders. Ich freue mich, dass wir eine so bunte Nähcommunity sind! Der selbst gestrickte Pulli fällt übrigens total ins Auge! LG Julia

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    1. Das kann ich mir vorstellen - oder eigentlich auch nicht. Mein Lebensgefährte kommt auch aus NRW, ist aber etliche Jahre älter, da war zu der Zeit für ihn noch ganz andere Dinge wichtig. Auch ich finde es super toll und spannend, wenn man mal hinter die Kulissen der Nähbegeisterten schauen kann. LG Anke

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  4. Danke für diesen tollen Bericht! Ich erinnere mich zwar an den Mauerfall, aber wirklich begreifen konnte ich dieses Ereignis (und alles was davor und direkt danach geschah) mit meinen 9 Jahren im beschaulichen Südwesten nicht. Berichte aus dieser Zeit verursachen bei mir immer Fassungslosigkeit und Gänsehaut.

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